Postulat über die Traurigkeit in der Musik
6.10.2015
Es tut mir geringfügig leid, die allgemeine Besinnlichkeit mit einer kurzen Wortmeldung und tiefschürfenden Fragen zu unterbrechen. Eine Bemerkung noch vorab: Selbstverständlich unterziehe ich alle meine Gedanken einer eingehenden Prüfung. Nachfolgendes kann und will trotzdem keine abschließende Betrachtung sein, sondern eben ein Postulat. Henkt mich nicht, wenn etwas nicht stimmt. Wohlan denn:
Worüber reden wir eigentlich, wenn wir über «traurige Musik» reden? Gibt es diese traurige Musik überhaupt, oder gibt es vielmehr Musik, die Traurigkeit ausdrückt? Ist Traurigkeit absolut oder relativ, immer oder manchmal? Und so weiter. Im ersten Moment der Wahrnehmung scheint es offensichtlich, dass traurige Musik – und somit auch ihr Gegenpol fröhliche Musik – existiert. Man nehme als Beispiel «Happy» von Pharell Williams. Niemand bei einigermaßen funktionsfähigem Verstande wird behaupten können, dass das keine fröhliche Musik ist. Nehmen wir kurz – sozusagen aus Spaß am Argument – aber an, dass dem nicht so sei. Dass Happy nicht immer fröhlich ist.
Unsere Begriffe von Fröhlich- wie Traurigkeit sind notwendig an unser Erleben gebunden. Wie wir auf bestimmte Reize – zum Beispiel eben Töne – reagieren hängt ganz offensichtlich auch davon ab, ob wir etwas und, wenn ja, was wir mit diesen verbinden.
Diese subjektiv emotionale Verbundenheit zu Empfindungen hat einerseits gesamtgesellschaftliche Formen. Der Mensch als soziales Wesen ist immer Produkt seiner Umwelt, von Freund*innen und (meistens) Familie bis zu dem beinahe komplett globalisierten Aufmerksamkeitssumpf Interwebs. Das ist auch die Ebene, auf der wir solche Wahrnehmungen noch objektiv beschreiben können. Allerdings, nicht allgemeingültig.
Eine Allgemeingültigkeit jener Betrachtungen ist unmöglich festzustellen, weil es immer noch eine subjektive Ebene gibt, die die Wahrnehmung nicht verschleiert – wie man etwa bei ideologischem Betrachten nicht den Wahrheitsgehalt der Sache, sondern seine Idealisierung sieht – sondern diese Wahrnehmung zu einem Gutteil ist. Oder, runtergebrochen: Der Kapitalismus ist der Kapitalismus und man kann Wahrheiten über ihn festhalten. Etwa, dass der Reichtum der industrialisierten Staaten auf der Ausbeutung der Peripherie und der eigenen lohnarbeitenden Menschen (veraltet: Proletariat) beruht. Das ist so, da ändern auch schöne Erzählungen nichts dran.
Emotionen sind aber nur dem Wortsinne nach die immergleichen Emotionen. Die Ausprägung, die Auslöser sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Ich habe schon Leute lachen sehen, während sie Grindcore hörten. Und ebenso ist es – Dur hin, tausende wie verblödet über die Mattscheibe tanzende shiny happy Popkulturjunkies her – möglich, zu Happy zu weinen.
Also alles egal? Begriffslose Beliebigkeit? Das Individuelle als Totschlagargument?
Keinesfalls.
Was es nämlich gibt – von Mozarts Requiem in D-Minor bis zu Of My World von Daniel Jacques – ist Traurigkeit in der Musik.
Musik drückt vermutlich Traurigkeit aus, seit es sie gibt, zumindest aber, seit sie überliefert wird. Das Spannungsfeld Melancholie ist somit der kulturellen Produktion inhärent, wenn vielleicht auch nicht für alle und andauernd notwendig. Musik hat dabei eine kanalisierende Funktion. Wenn «Lach doch mal» zur Beleidigung wird, wird in schwarze Kluft gekleidete Musik Befreiung.
Vor der bisher schwersten depressiven Phase meine Lebens hielt ich den Spruch «Music saved my life» für ganz nett, aber auch ein bisschen übertrieben. Ich hatte die Lebensgefahr schlicht noch nicht erlebt, aus der Musik eine retten kann.
Wenn wir uns hier also um das Thema «Traurige elektronische Musik» drehen, dann sollten wir diese Traurigkeit nicht als Fix- oder Endpunkt begreifen. Wir dürfen sie – gerade in ihrer klinischen Form – nicht verklären und müssen doch gleichzeitig ihre Notwendig- und Nützlichkeit anerkennen.